Rede von Staatsministerin Maria Böhmer anlässlich der Eröffnung der Ausstellung "Leben nach dem Überleben" am 28. Januar 2016

 

 - Es gilt das gesprochene Wort! - 

Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich begrüße Sie herzlich im Auswärtigen Amt zur Eröffnung der Austellung "Leben nach dem Überleben". Es ist mir eine besondere Freude, Pnina Katsir, George Shefi und Richard Hirschhorn zu begrüßen. Sie sind eigens aus Israel angereist, denn um Sie geht es in dieser Ausstellung. Sie sind Überlebende des Holocaust. Für mich ist dies eine Begegnung, die mich tief berührt.


Frau Katsir, Sie wurden 1930 im rumänischen Siret geboren und flüchteten 1940 mit ihrer Familie nach Czernowitz. Von dort gelangten Sie in wochenlangen Märschen in die heutige Ukraine und wurden 1941 in das Ghetto in Dzhurin gebracht. Die unmenschlichen Zustände dort – 400 der 500 Ghettobewohner starben an Typhus – überlebte Ihre Familie wie durch ein Wunder. Nach der Befreiung des Ghettos 1944 erreichten Sie als eine der ersten Ihrer Familie das damalige Palästina.
Bis heute leben Sie mit Ihrer Familie, Kindern und Enkelkindern in Israel.

Herr Shefi, Sie sind 1931 hier in Berlin geboren. Nach der Reichspogromnacht 1938 hat Ihre Mutter Sie mit einem Kindertransport zu Verwandten nach England geschickt. Ihre Mutter und Ihre Schwester haben Sie nie wieder gesehen. Sie wurden in Auschwitz ermordet.
1945 sind Sie zu einem Onkel in die USA ausgewandert, mit dem Sie 1948 nach Israel emigrierten. Dort leben Sie heute mit Ihrer Frau, Kindern und Enkelkindern.

Herr Hirschhorn, Sie wurden 1931 in Köln geboren. 1939 schickten Ihre Eltern Sie gemeinsam mit Ihrem Bruder nach Paris zu Verwandten. Ohne Ihren Bruder, der bereits zu alt für einen weiteren Kindertransport in die USA war, wollten Sie nicht gehen. Unter dem Vorwand, Sie zum Zahnarzt zu schicken, gelang es Ihrem Bruder, Sie in einen Transport in die USA einzuschleusen. Ihr Bruder wurde schließlich nach Auschwitz deportiert und starb auf einem der Todesmärsche. Auch Ihre Eltern und Ihre Schwestern wurden nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Sie blieben 14 Jahre in den USA und haben dort auch Ihre Frau kennen gelernt und geheiratet. 1971 sind Sie gemeinsam nach Israel ausgewandert. Heute leben Sie dort mit Ihren Kindern und Enkelkindern.

Sie alle haben unvorstellbares Leid, Todesangst und den Verlust von nahen Verwandten und Freunden erfahren. Kann man diese grauenhaften Erlebnisse, den so schrecklichen Verlust von Eltern und Geschwistern, überhaupt bewältigen?

Ihre Schicksale machen uns deutlich, wie schwer dieser Weg ist, wie wichtig es ist, dabei Unterstützung zu finden. Ihre Schicksale machen uns auch deutlich, wie tief der Schmerz selbst 71 Jahre nach dem Holocaust ist. Wie Ihre Schicksale das Gedächtnis Ihrer Familien prägen, wie sie das Leben ihrer Kinder und Enkel beeinflussen. Auch das soll diese Ausstellung zeigen.

Der Verein AMCHA – auf Hebräisch „Dein Volk“ – wurde 1987 von Überlebenden für Überlebende gegründet, um diese tiefen seelischen Wunden zu verarbeiten, wenn das üeberhaupt geht. Psychotherapeutische Gespräche, Hausbesuche und Aktivitäten in Sozialclubs sollen Überlebende und ihre Nachkommen dabei unterstützen, mit dem Erlebten, dem Grauen, der Ermordung ihrer Familie, umzugehen. Dabei kommen auch professionelle Helfer zum Einsatz.

Doch in erster Linie ist AMCHA eine Selbsthilfe-Organisation. Auch Sie, Frau Katsir, Herr Shefi und Herr Hirschhorn, engagieren sich seit Jahren bei AMCHA in Israel.

2014 wurden insgesamt 17.812 Menschen von AMCHA betreut, die im Durchschnitt 84 Jahre alt sind. Und immer mehr Menschen suchen die Hilfe von AMCHA.

Denn in einem Alter, wenn die Kinder aus dem Haus sind, das aktive Berufsleben abgeschlossen ist und vielleicht auch der Partner schon verstorben ist, kommen die furchtbaren Erinnerungen mit großer Heftigkeit zurück.

Viele Menschen leiden, wenn die traumatischen Erinnerungen wieder an die Oberfläche kommen, an schweren Depressionen, Angstzuständen und Verzweiflung.

Die ungarische Autorin und Ausschwitz-Überlebende Eva Fahidi hat es einmal so ausgedrückt:
„Die Wunde heilt nicht, sie ist immer neu, wenn man ihr begegnet.“

Die Ausstellung „Leben nach dem Überleben“ dokumentiert Einzelschicksale und die Arbeit von AMCHA. Die Bilder zeigen, dass die Aufarbeitung der Traumata eine Gegenwartsfrage ist. Sie zeigen aber auch, wie ein Weg wieder zurück ins Leben führen kann.

Die Fotografin Helena Schätzle nimmt den Betrachter mit. Mit in die Familien, in Momente der Trauer, Einsamkeit, Angst. Sie führt sie aber auch in den lebendigen Alltag der Überlebenden, zeigt Freude und Geborgenheit. Diese sehr persönliche Verarbeitung der Vergangenheit mahnt uns Deutsche, dass wir eine besondere Verantwortung tragen. Dass unsere Vergangenheit immer auch Teil der Gegenwart und Zukunft ist. Dass die Shoa ein untrennbarer Teil davon ist, den wir nie vergessen!

Gestern haben wir im Deutschen Bundestag der Opfer des Nationalsozialismus gedacht. Als Bundespräsident Herzog 1996 den 27. Januar zum jährlichen Gedenktag erklärt hat, wollte er ein beständiges Zeichen setzen, um die Erinnerung weiterzugeben: die Erinnerung an die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten und an die Opfer des Holocaust.

In der gestrigen Gedenkstunde hat Ruth Klüger eindringlich und zutiefst berührend ihre Jugend als Zwangsarbeiterin in den Konzentrationslagern geschildert.

Die Begegnung mit Zeitzeugen ist ungemein kostbar für uns. Sie können uns noch persönlich vom Überleben des Unvorstellbaren, vom „weiter leben“ berichten, wie es Ruth Klüger in ihrer Autobiografie genannt hat. Der Holocaust ist Mahnung für uns alle. Deshalb stellen wir uns mit aller Macht gegen jede Form von Antisemitismus.

Wir machen denjenigen, die antisemitische Parolen rufen, jüdische Friedhöfe schänden oder jüdische Mitbürger angreifen, deutlich: Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit haben in Deutschland keinen Platz!

Die Erwartung, wachsam gegenüber Unmenschlichkeit zu bleiben und sich gegen Ausgrenzung, Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zu stellen, gilt ausnahmslos für alle Menschen, die in unserem Land leben wie auch für diejenigen, die zu uns gekommen sind.

Eine besondere Verantwortung tragen wir auch angesichts der humanitären Herausforderungen, vor denen wir aktuell in Deutschland, in Europa und weltweit durch Flucht und Migration stehen.

Viele der Menschen, die nun bei uns Schutz suchen, tragen tiefe Wunden. Es sind Erfahrungen von Krieg, Gewalt und Leid. Auch sie lassen uns spüren, welche Traumata Flucht und Vertreibung erzeugen. Im vergangenen Jahr war es 50 Jahre her, dass Israel und die Bundesrepublik Deutschland diplomatische Beziehungen aufgenommen haben.

Damals haben Sie uns die Hand gereicht und wir haben sie dankbar angenommen. Dieses Wunder ist nur möglich geworden durch das Vertrauen, das Israel Deutschland geschenkt hat. Ich bin sehr dankbar dafür, dass es wieder ein aufblühendes jüdisches Leben in Deutschland gibt.

Heute sind die deutsch-israelischen Beziehungen ein lebhafter Austausch in allen Bereichen, getragen von engagierten Menschen auf beiden Seiten.

Die große Aufgabe für uns heute ist, diese Partnerschaft immer wieder mit Leben zu erfüllen. Das ist eine besondere Herausforderung, gerade im Hinblick auf die junge Generation.

Dieser Aufgabe stellt sich die Stiftung Deutsch-Israelisches Zukunftsforum. Sie bringt junge Erwachsene aus Deutschland und Israel zusammen. Ich habe die Freude, dem Kuratorium der Stiftung anzugehören.

Danken will ich nun der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft, die die Reisen von Frau Schätzle nach Israel ermöglicht hat, bei denen die meisten Bilder dieser Ausstellung entstanden ist.

Ich wünsche der Ausstellung „Leben nach dem Überleben“– hier in Berlin und auf ihren weiteren Stationen in Deutschland und Israel –
viele Besucher!

Vielen Dank.

Nach oben