„An den Rändern des Lebens“: Text meiner Kanzelrede

Im Rahmen der Lutherdekade hielt ich am 7. September eine Kanzelrede in der Lukaskirche in Ludwigshafen. Hier finden Sie den Text meiner Rede.


"An den Rändern des Lebens"



Sehr geehrte Frau Pfarrerin Müller,

sehr geehrter Herr Pfarrer Köhl,

liebe Gemeinde,

meine sehr geehrten Damen und Herren!

 

I. Einleitung

 

Wann ist das Leben lebenswert?

Dürfen wir über Leben und Tod entscheiden?

Wie gehen wir mit dem eigenen Leid, wie mit den Schmerzen und Ängsten unserer Mitmenschen um?

 

In unserem Leben wird jede und jeder von uns mit diesen Fragen konfrontiert.

Dies gilt genauso für mich: in meiner Familie und im Freundeskreis,

bei schweren Erkrankungen,

beim Abschied von einem geliebten Menschen.

 

Grenzfragen des Lebens betreffen mich aber auch als Bundestagsabgeordnete, beispielsweise bei der Stammzellforschung,

der Organtransplantation,

oder jetzt, wenn es um Sterbebegleitung und Sterbehilfe geht.

 

Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass der Glaube in ausweglos erscheinenden Situationen Kraft gibt. Dass der Glaube uns Hoffnung, ja ein Stück Sicherheit in einer unsicheren Welt schenkt.

 

Aber ich kenne auch die Frage: Wie kann Gott dieses Leid zulassen?

 

Erinnern Sie sich noch an den Schlager aus den 80er Jahren „Ich wünsch‘ Dir Liebe ohne Leiden“? Die erste Reaktion ist natürlich Zustimmung. Aber wenn ich über diesen Wunsch nachdenke, kommt er mir zumindest merkwürdig, ja abstrus vor. Liebe, die Leid ausklammert, verkennt den tiefen Sinn von Liebe.

 

Ja, es widerspricht geradezu dem Wesen der Liebe: In der Liebe begleiten wir andere Menschen in ihrem Leid. Wir sind bei ihnen, helfend, die Hand reichend, gemeinsam das Leid tragend. 

 

Wann ist das Leben lebenswert?

Dürfen wir über Leben und Tod entscheiden?

Diese Fragen gehen weit über den persönlichen Bereich hinaus.

Sie berühren zutiefst unser Werteverständnis.

 

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

So beginnt unser Grundgesetz.

 

Und die Mütter und Väter haben dieses Grundgesetz bewusst in der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ formuliert, so ist es in der Präambel nachzulesen.

 

Wenn es im konkreten Fall darum geht, Gesetze zu beschließen, die sich mit Fragen des Lebens befassen, wird schnell klar, wie schwierig dies meist ist, von der Sache her und für jeden Abgeordneten persönlich.

 

Die scheinbar einfachen Lösungen gibt es nicht. Meist handelt es sich um außerordentlich komplexe Entscheidungen. Für mich ist es stets ein Ringen um Regelungen, die den Schutz des Lebens und die Würde des Menschen achten.

 

Fragen des Lebens sind zweifellos Gewissensentscheidungen. Aus diesem Grund unterliegen solche Entscheidungen im Bundestag auch nicht dem Fraktionszwang.  

 

Jede und jeder Abgeordnete soll frei dem eigenen Gewissen folgen können. Das Parlament muss sich hier in besonderer Weise seiner Verantwortung stellen.  

 

Fragen des Lebens begegnen uns nicht erst bei schwerer Krankheit oder am Lebensende sondern schon ganz am Anfang, wenn es um den Schutz des ungeborenen Lebens geht.

 

II. Lebensschutz von Anfang an

 

Vor mehr als zehn Jahren wurde von Seiten der Wissenschaft mit großer Vehemenz gefordert, die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen auch in Deutschland zu erlauben.

 

Auf der einen Seite stand die Hoffnung auf schnelle Erfolge, die Hoffnung auf die Heilung von bisher unheilbaren Krankheiten.

 

Auf der anderen Seite ging es um sehr grundsätzliche Entscheidungen:

Was darf Forschung?

Wo müssen wir Grenzen ziehen?

Dürfen Embryonen, darf menschliches Leben zerstört werden, um Stammzellen für die Forschung zu gewinnen?

 

Ich habe selbst das Gesetz zur Stammzellforschung formuliert, gemeinsam mit zwei Kolleginnen. Wir folgten dabei dem Grundsatz, dass kein Embryo für die Forschung sterben soll. Zugleich haben wir in einem sehr begrenzten Umfang Grundlagenforschung an bereits existierenden Stammzellen ermöglicht.

 

Rückblickend kann ich sagen, dass dies die richtige Entscheidung war. Heute ist die medizinische Forschung so weit, dass sie nicht länger auf embryonale Stammzellen angewiesen ist. "Be patient" – habe Geduld: Dieser Leitsatz, den mir John Gearhart, einer der bekanntesten Stammzellenforscher in den USA, bei einem Besuch seines Labors in Baltimore mit auf den Weg gegeben hat, hat sich bewahrheitet.

 

 

III. Lebensschutz am Lebensende

 

Eine ähnlich intensive und an die Grenzen unseres Seins gehende Debatte erwarte ich für die nächsten Monate im Deutschen Bundestag, wenn es um Sterbehilfe und Sterbebegleitung geht.

 

Das hat mich auch bewogen, diese Kanzelrede unter das Thema „An den Rändern des Lebens“ zu stellen.

 

III.1. Sprechen über den Tod

 

Das Bewusstsein, dass wir sterblich sind, verändert unsere Einstellung zum Leben. Das ist auch die Botschaft des Psalms:

„Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf das wir klug werden.“

(Ps 90, 12 Lutherübersetzung)

 

Wenn wir hingegen meinen, Sterben und Tod aus unserem Leben ausblenden zu können, sind oft Ungewissheit und Ängste die Folge. Angst, dass sagen uns viele Palliativmediziner, ist der größte Gegner einer würdevollen und menschlichen Sterbebegleitung.

 

Angst überwindet man, indem man darüber spricht, seine Ängste mitteilt – und sie so mit anderen teilen kann.

 

Das Reden über den Tod – ob über den eigenen oder den eines nahen Verwandten oder Freundes – ist ein erster und wichtiger Schritt, Sterben in Würde zu ermöglichen.

 

Früher hatte der Tod noch seinen unmittelbaren Platz in der Familie. Er war für alle erfahrbar. Das ist heute eher selten der Fall. Zum einen haben sich die familiären Strukturen verändert. Oft wohnen Alt und Jung nicht mehr unter einem Dach oder sogar in verschiedenen Orten.

 

Zum anderen bewirkt der medizinische Fortschritt eine Zunahme stationärer Behandlungen am Lebensende.

Beides ist meines Erachtens noch kein Hindernis für eine Gesellschaft, in der Sterben in Würde zum Alltag gehört.

 

Problematisch sind nicht diese Entwicklungen selbst, sondern deren Folgen. Sterben und Tod sind aus unserem Alltag verschwunden.

 

Wie sollen wir mit dem Sterben unserer Mutter, unseres Partners oder eines guten Freundes umgehen können, wenn wir das Sterben aus unserem Leben verbannt haben? Wenn der Tod als etwas geradezu „unmenschliches“ empfunden wird? Wenn wir ihn immer weniger verstehen und akzeptieren?

 

Zum Sterben in Würde gehört für mich zunächst einmal, das Sterben selbst als Bestandteil des Lebens zu begreifen. Es gehört für mich dazu, mit meinem Umfeld über das Sterben sprechen zu können, ob als Betroffener selbst, oder als Angehöriger, aber auch als Arzt oder Pflegekraft. Und es gehört für mich dazu, die Ängste vor dem Sterben auszusprechen. Denn nur so kann ich lernen, mit diesen Ängsten umzugehen.

 

Pfarrer und Seelsorger sind mit der Situation des Abschiednehmens und der Trauer vertraut. Sie können uns helfen, zum Gespräch über den Tod zu finden.

 

III.2. Vermeintliche Autonomie

 

Die Angst vor einem Kontrollverlust,
die Angst auf Hilfe angewiesen zu sein,

die Angst, hilflos der Apparatemedizin ausgeliefert zu sein,

beschäftigt Menschen heute stark. Das Sterben, der Tod, soll beherrschbar sein.

 

Aber das Verlangen nach Kontrolle, nach Selbstbestimmung, kann sich schnell ins Gegenteil verkehren. Dies zeigen uns die Erfahrungen im Ausland – insbesondere in Belgien und den Niederlanden. Dort hat der Gesetzgeber aktive Sterbehilfe, die aktive Herbeiführung des Todes durch Ärzte, erlaubt.

 

In Belgien wurde im Februar die aktive Sterbehilfe sogar auf Minderjährige ausgeweitet.

 

Die Liberalisierung der Gesetze hat dort nicht zu mehr Freiheit geführt – im Gegenteil!

 

Viele kranke und ältere Menschen fühlen sich plötzlich unter Druck gesetzt. Sie fällen die Entscheidung, selbst aus dem Leben zu scheiden, nur um ihren Nächsten nicht zur Last zu fallen.

 

Eine solche Gefahr sehe ich auch, wenn jetzt bei uns Stimmen laut werden, die eine Sterbehilfe-Erlaubnis für Ärzte fordern.

 

Ich teile die Auffassung des evangelischen Theologen Peter Dabrock,

dem stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates:

 

„Der Forderung, aktive Sterbehilfe und ärztliche Suizidbeihilfe zu untersagen, liegt eben nicht einfach eine selbstbestimmungsfeindliche und reaktionäre Verbotsmoral zugrunde. Sie hat vielmehr den Schutz für die Schwächsten der Gesellschaft zum Ziel. Sie macht sich für ein alternatives Selbstbestimmungskonzept stark.“

 

Wie kann oder sollte eine solche Alternative aussehen?

Diese Frage treibt mich schon länger um. Wir brauchen überzeugende Antworten! Vor allem, wenn wir das folgende Umfrageergebnis vor Augen haben: Jeder zweite Deutsche kann sich vorstellen, dass er sich umbringt, wenn er im Alter pflegebedürftig wird. Entsprechend hoch ist die Zustimmung zur aktiven Sterbehilfe.

 

Aus dem Leben fliehen zu wollen,
aus Angst vor dem Tod – eine solche Einstellung darf uns nicht ruhen lassen.

Ein generelles Verbot der organisierten Sterbehilfe, das ich sehr unterstütze, reicht allein nicht!

 

Ich gehe deshalb in Pflegeheime und Hospize, suche das Gespräch mit Seelsorgern, Pflegekräften, Ärzten, Mitarbeitern und ehrenamtlich Engagierten in der Hospizbewegung und nicht zuletzt mit den Betroffenen selbst.

 

Immer wieder wurde mir erklärt, der Wunsch nach Sterbehilfe schwinde, wenn schwerstkranke und pflegebedürftige Menschen palliativmedizinische Hilfe und menschliche Zuwendung erfahren würden. Hier müssen wir also ansetzen!

 

III.3. Aufzeigen der Alternativen

 

In der Palliativmedizin wurde in den vergangenen Jahren viel erreicht. Nur sind die konkreten Fortschritte bei der Behandlung physischer und psychischer Schmerzen von Schwerstkranken den meisten Menschen nicht bekannt.

 

Deshalb ist es erstens so wichtig, über die Möglichkeiten der Palliativmedizin, den Leistungsanspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung und die Angebote der Hospizarbeit aufzuklären.

 

Zweitens setze ich mich mit allem Nachdruck für die weitere Verbesserung von Pflege und der Palliativ- und Hospizversorgung ein.

 

Mit Blick auf die Ärzte bin ich bei einem dritten Gedanken. Häufig reduzieren wir Fragen zum Sterben in Würde auf Palliativstationen und Hospize. Die Rolle der niedergelassenen Ärzte beim Thema der Sterbebegleitung wird dabei oft unterschätzt oder übersehen.

 

Gerade der eigene Hausarzt benötigt palliativmedizinische Kompetenzen. Denn gute Sterbebegleitung findet in vielen Fällen nicht nur in den letzten Tagen statt. Diese Entwicklung wird in Zukunft eher zu- als abnehmen.

 

Jeder Arzt muss darauf entsprechend vorbereitet sein. Deshalb wurde 2009 Palliativmedizin als Pflichtlehr- und Prüfungsfach in die Approbationsordnung für Ärzte aufgenommen.

 

Dies war ein wichtiger Schritt. Nur müssen wir auch die bereits tätigen Ärzte erreichen. Hier ist in der Weiterbildung noch eine Menge zu tun.

 

Zuletzt möchte ich noch einen vierten Punkt ansprechen. Die Hospizbewegung ist bei uns aus historischen Gründen stark ehrenamtlich geprägt. Ich halte dies für einen großen Gewinn.

 

Ehrenamt ist nämlich nicht einfach unbezahlte Arbeit. Hinter Ehrenamt steht ein anderes Ethos, eine andere Hingabe, eine andere Motivation. Gleichzeitig braucht Ehrenamt eine besondere Unterstützung, gerade wenn es um Sterbebegleitung geht.

 

Ich weiß, dass hier von Seiten der Kirche viel getan wird, gerade hier in Ludwigshafen. Hierfür bin ich dankbar!

 

Sehr geehrter Herr Pfarrer Köhl,

ich erinnere mich noch an unsere Begegnung in Grünstadt, wo Sie Verantwortung für die Sozialstation getragen haben und sich für die Belebung der Nachbarschaftshilfe stark gemacht haben.

 

Ehrenamt und professionelle Arbeit stehen nicht in Konkurrenz sondern ergänzen einander. Sie bilden ein Netzwerk, das unheilbar Kranke, Pflegebedürftige und deren Angehörige auffängt.

 

IV. Schluss

 

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, sagt unser Grundgesetz.

„Gottes Tempel ist heilig, und der seid ihr“, sagt uns der Apostel Paulus.

 

Beide Aussagen – die eine säkular, die andere religiös – mahnen uns, menschliches Leben zu schützen. Sie ermutigen uns, dass Selbstbestimmung auch bedeutet, Schwäche und Leid zuzulassen und annehmen zu können.

 

Ich wünsche mir, dass wir mit dem gleichen Nachdruck, mit dem wir für gute Kinderbetreuung und Inklusion streiten, für gute Pflege, für eine Stärkung der Palliativmedizin und der Hospizarbeit, für mehr menschliche Zuwendung streiten. Getreu dem Monatsspruch der Lukaskirche:
 

„Sei getrost und unverzagt, fürchte dich nicht und lass dich nicht erschrecken!“

 

 


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